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Es gibt sie auch in Göttingen: Die Abiturientin aus Aleppo, die nach sechs Monaten in Deutschland eine Ausbildung zur Krankenschwester macht. Den Akademiker aus Pakistan, der einen Job in einem Forschungsprojekt gefunden hat. Und den Lackierer aus Damaskus, der in einem Baumarkt arbeitet.

Doch repräsentativ sind diese Beispielen nur begrenzt – „Die Ärztin und der gut ausgebildete Informatiker sind eher eine Ausnahme“, sagte die Landtagsabgeordnete Gabriele Andretta (SPD) kürzlich.

Wie lange es dauert, bis Flüchtlinge mit gleichen Chancen am Arbeitsmarkt teilhaben können, ist derzeit unklar: „Zum jetzigen Zeitpunkt sind wissenschaftliche Aussagen fast nicht möglich“, sagt Martin Baethge, Präsident des soziologischen Forschungsinstuts Göttingen (SOFI). Er hat anhand der wenigen verfügbaren Daten am nationalen Bildungsbericht der Bundesregierung mitgearbeitet und berichtet:
„seriöse Ökonomen gehen alle davon aus, dass es fünf bis sieben Jahre dauern wird“.

Wie lange es dauert, ist für Baethge zweitrangig. Er setzt darauf, die 120000 Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive im Alter von  16 bib  25 Jahren auf berufliche Ausbildungen vorzubereiten. Die meisten hätten eine Schule besucht, aber der Kenntnisstand zu einem deutschen 15-Jährigen unterscheide sich um etwa vier Schuljahre. Und selbst wenn die Flüchtlinge Berufserfahrung haben, sieht Baethge große Unterschiede, Deutschland sei schließlich eine „Hochtechnologie-Ökonomie“.

Ausgleichen sollen das vor allem Berufsschulen. „Lernen, lernen, lernen“  sei dort die Devise, sagt Rainer Wiemann, Schulleiter der BBS1 Arnoldi-Schule Göttingen. Obwohl er es täglich mit großer Motivation zu tun habe, gehe es nicht so zügig voran wie gewünscht. Auch wegen Ursachen, die nicht in der Hand der  Schulen oder Flüchtlinge liegen: In der Vergangenheit grausames erlebt zu haben, belaste viele Schüler, berichtet Wiesmann.  Auch mit dem Tod von Angehörigen in den Herkunftsländern konfrontiert zu werden, sei bei den jungen Flüchtlingen „eher die Regel als die Ausnahme“.

Hinzu kommt, dass Wiesmann zufolge viele Flüchtlinge nach dem Auszug aus Flüchtlingsheimen in sozialen Brennpunkten landen – für Baethge einer der Gründe dafür,  umfangreich Unterstützungsmaßnahmen zu konzipieren: „Berufliche und soziale Integration bedingen sich gegenseitig“, sagt er.

Tatsächlich gibt es derzeit eher zu viele Maßnahmen mit zu vielen, unterschiedlichen Förderprogrammen: Die Landesregierung wolle deshalb statt dieses Flickenteppichs auf Integrationsketten -also miteinander verzahnte Programme- setzen, kündigte Andretta an. Für Maßnahmen aus einem Guss plädiert auch Baethge und verweist auf das sogenannte Hamburger Modell: Dort sollen junge Geflüchtete künftig zwei Jahre lang auf das Berufsleben vorbereitet werden. Eine bundesweite Umsetzung würde nach seinen Angaben allerdings rund eine Milliarde Euro jährlich kosten.

Er hält das trotzdem für zielführender, als junge Flüchtlinge in unqualifizierte Hilfsberufe einsteigen zu lassen: Weil dort der Arbeitsmarkt ohnehin am angespanntesten sei, drohe angesichts Hunderttausender weiterer Bewerber „unglaublicher sozialer Sprengstoff“.

Von Christoph Höland

„Wichtig ist, dass die Leute das wollen“

Während über Lösungen debattiert wird, entwicklen manche Handwerksbetriebe ganz eigene Ansätze. Der Göttinger KFZ-Meister Michael Naoumis hat zwei Auszubildende eingestellt – einer davon ist Flüchtling, der andere greift ihm unter die Arme.

„Wichtig ist, dass die Leute das wollen“, sagt Naoumis. Zehn Mitarbeiter beschäftigt  er in  der KFZ-Werkstatt „Rad und Tat“ – und statt wie ursprünglich geplant zwei sind es derzeit drei Azubis. Abdelwahed Mosa Mohammed Thabit ist der jüngste Neuzugang, seit 18 Monaten lebt der gebürtige Sudanese in Deutschland. Mit seinen Leistungen im Betrieb ist Naoumis „sehr zufrieden“. Im Betrieb laufe es besser als in der Berufsschule, sagt allerdings Thabit. Er hat zwar schon in Libyen als KFZ-Mechaniker gearbeitet, besonders schriftliche Aufgaben machen ihm aber zu schaffen. Naoumis hat deshalb dafür gesorgt, dass sein zweiter Azubi, Simon Brüß, dem Flüchtling beispielsweise Fragestellungen nochmal erläutert. Dann klappe es, sagt Brüß – „schließlich weiß Abdulwahed ja eigentlich, was er machen muss“.

Für die sprachlichen Probleme hat Naoumis, selber Deutsch-Grieche, Verständnis: „Es dauert, bis man der Sprache mächtig ist“. Er versucht deshalb, für Thabit Sonderregelungen in der Berufsschule herauszuschlagen. Und er ärgert sich über die Bürokratie, denn für „echte Auszubildende“ gebe es weniger Förderprogramme als für Flüchtlinge, die zu Hilfsarbeitern geschult würden. Beispielsweise einen Sprachkurs für die Zeit nach Feierabend zu finden, gestaltet sich Naoumis zufolge schwierig. Für ohne weiteres auf andere Betriebe übertragbar hält er sein Modell aber nicht – Brüß gehört zu den Azubis, die in der Schule außerordentlich gut mitkommen. Allerdings fragt sich Naoumis, ob es nicht möglich wäre, verrentete Alt-Gesellen und KFZ-Meister als „Tandempartner“ zu gewinnen. Davon, dass das Berufsleben Flüchtlingen gut tut, ist er hingegen überzeugt. Und auch Thabit sagt: „Ich bin 27, ich will vorankommen.“

 „Wir verstehen das“

Regionale Betriebe zeigen Martin Rudolph zufolge großes Engagement bei  der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen. Der Vorsitzende der  Geschäftsstelle Göttingen  der IHK Hannover spricht von rund 300  Praktikumsplätzen, die in der Region für Flüchtlinge zur Verfügung stünden. Doch folgt man ihm und dem Geschäftsführer der Handwerkskammer, Andreas Gliem, ist vor allem die Sprachbarriere ein Problem: Zwar habe man durchaus ein paar Leute in Betriebe vermittelt „wir können uns nicht verständigen“, sei da aber großteils die Rückmeldung gewesen, sagt  Gliem.

Ihm und Rudolph zufolge glauben viele Unternehmen nicht an die  Arbeitsmarktintegration einer großen Zahl von Flüchtlingen in nächster  Zukunft – „alle sehen, dass, dieser Prozess etwas länger dauert als ein  bis drei Monate“, sagt Rudolph. Verantwortlich macht er dafür vor allem  sprachliche Barriere. „Wir verstehen das“, sagt er bezüglich der  Notwendigkeit zusätzlicher Qualifizierungsmaßnahmen vor der  Berufsaufnahme.
Zugleich begrüßen beide Wirtschaftsvertreter das jüngste  Integrationsgesetz: Damit hatte die Bundesregierung beispielsweise  beschlossen, dass ein Ausbildungsvertrag einem Flüchtling einen dreijährigen Aufenthaltstitel garantiert – für die Betriebe eine dringend notwendige Rechtssicherheit bei der Beschäftigung von Flüchtlingen.

Quelle: Artikel im Göttinger Tageblatt vom 07.11.2016 Link zum Original-Artikel im GT